Die Untat - Eine Erzählung von Kurt Kusenberg

 

UM EINE GEWISSE JAHRHUNDERTWENDE MACHTEN DIE Forschungen des flämischen Gelehrten Talle so viel von sich reden, daß die Stadt Brenona ihn an ihre Universität berief. Die zu dem Schritt geraten hatten, durften Lob einfordern, denn wie ein Stern leuchtete seither der Name des großen Mannes über der ehrgeizigen Stadt und zog Scharen von Studenten an. Im gleichen Maße aber verblaßte und zerging das Ansehen des Professors Orlino, der bisher die Naturwissenschaften gelehrt und nun das Ordinariat an Talle hatte abtreten müssen. Mit den kühnen Versuchen, den scharfsinnigen und neuen Gedanken Talles verglichen, hörten sich Orlinos Vorlesungen dürftig an. Bald reichte der größte Hörsaal nicht aus, um alle Studenten zu fassen, die Talle begeistert zuströmten, während der kleinste bequem jene wenigen aufnahm, die Orlino noch nicht verlassen hatten.

Tief sank die Waagschale, auf der Orlinos Leben ruhte. Des Unglücks nicht genug, verlor er zur selben Zeit einen Prozeß und geriet in ernste Geldsorgen. Doch die Not zehrte nicht so bitter an ihm wie der Niedergang seines Rufes. Außerstande, sich. vor dem Größeren zu beugen und aus dessen warmherzig angetragener Freundschaft Ehre wie Nutzen zu ziehen, verhärtete er und hing, sich und andere täuschend, seiner Mißgunst ein ehrbares Mäntelchen um. Den Freunden goß er ins Ohr, Talle versündige sich an der Wissenschaft und verderbe die Jugend, die unter seinem Banne Falschgeld für bare Münze, Gaukelwerk für Methode ansehe. Kurzum, er suchte Streit, wo es um Wettstreit ging, und haßte aus engem Herzen den Nebenbuhler, der ihn arglos überflügelt hatte. Dem Hassenden aber wird die Welt so klein, daß sie für zwei nicht Raum hat.

  "Er oder ich ! " grübelte Orlino. "Er - nicht ich! " Es wird ein Geheimnis bleiben, wie es ihm gelang, den Studenten Narda für seinen Plan zu gewinnen. Was an Geist, echter oder gespielter Würde und Beredungskunst in ihm lebte, muß Orlino dermaßen geschickt an den jungen, leichtgläubigen Menschen gewendet haben, daß dieser allen Ernstes zu der Überzeugung kam, die Ermordung Talles sei eine gute Tat, und sich bereit fand, sie auszuführen. So wurde Orlino zum Verderber einer Jugend, die zu schützen er vorgab. Weiter noch trieb ihn der Haß und bewirkte, daß er die Regeln, die selbst das Böse sich setzt, bedenkenlos übersprang. Als nämlich Geld beschafft werde mußte, um Narda nach vollbrachter Tat die Flucht ins Ausland zu ermöglichen, scheute Orlino vor einem satanischen Scherz nicht zurück: er suchte Talle auf und lieh sich von seinem Opfer die Summe, die er zu dessen Beseitigung brauchte.

Der Mord geschah. Während Narda den Gelehrten niederstach, erschrak er vor seinem geistigen Rang und las in seinen Augen schmerzliche Verwunderung. Er entfloh, blieb jedoch wider die Absprache in der Stadt und verbarg sich, auch vor Orlino. Je mehr er, qualvoll allein, über das Geschehene brütete, um so deutlicher wurde ihm, daß er in Unrecht verstrickt worden war und eine ungeheuerliche Tat begangen habe. Das Verbrechen erregte großes Aufsehen, zumal sich niemand zu erklären wußte, aus welchem Grunde es geschehen sei. Ein Makel fiel auf die Stadt, in deren Mauern der berühmte Gast hingemordet worden war, und als die Polizei mit ihren Erhebungen nicht vom Flecke kam, forderten die Studenten die Absetzung des Präfekten.

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